Umsatzsteuer-Paket „VAT in the Digital Age“ – große Reform oder „ViDA“ nichts Halbes und nichts Ganzes?
Nach jahrelangen Verhandlungen und Blockaden hat der EU-Rat am 5. November 2024 einen überarbeiteten Entwurf einer EU-Richtlinie für die Initiative „VAT in the Digital Age“ angenommen, deren Maßnahmen die Mitgliedsstaaten schrittweise umsetzen müssen. Ziel ist es, die umsatzsteuerlichen Vorschriften in der Europäischen Union an das „digitale Zeitalter“ anzupassen, um Umsatzsteuerbetrug zu bekämpfen und einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Neben der bereits beschlossenen, sukzessiven Einführung der „E-Rechnung“ ab dem 1. Januar 2025 kommen weitere, umfassende umsatzsteuerliche Neuregelungen, mit denen sich deutsche Unternehmer rechtzeitig auseinandersetzen sollten.
Hintergrund: Nach Schätzungen verliert die Europäische Union jedes Jahr circa 100 Milliarden Euro Einnahmen durch Umsatzsteuerbetrug. Nach Auffassung der EU-Kommission liegt dies insbesondere auch daran, dass die umsatzsteuerlichen Vorschriften in der Europäischen Union im Hinblick auf die immer digitaler werdende Wirtschaft veraltet sind. Als Antwort darauf hat die EU-Kommission die Initiative „VAT in the Digital Age“ ins Leben gerufen, in deren Zusammenhang bereits am 8. Dezember 2022 ein Richtlinienentwurf mit umfassenden Reformen veröffentlicht wurde. Über den Entwurf wurde lange keine Einigung erzielt. Insbesondere gab es Bedenken wegen der Neuregelungen für die Plattformwirtschaft. Der EU-Rat hat nun einem Kompromissvorschlag zugestimmt, der bis auf großzügigere Umsetzungsfristen nur wenige Änderungen im Vergleich zu dem Entwurf enthält.
Änderungen im Einzelnen: Im Rahmen der Richtlinie werden drei Säulen definiert, mit denen der Umsatzsteuerbetrug in der Europäischen Union eingedämmt und der Wettbewerb fairer gestaltet werden soll. Zum einen soll ein europaweites, digitales Echtzeit-Meldesystem („E-Reporting“) auf der Grundlage von E-Rechnungen eingeführt werden. Zudem sollen die umsatzsteuerlichen Regelungen für die Plattformwirtschaft weiter verschärft werden. Zuletzt soll erreicht werden, sich die umsatzsteuerlichen Registrierungspflichten innerhalb der Europäischen Union für Unternehmer, insbesondere Online-Händler, deutlich reduzieren („Single VAT registration“). Die Umsetzung der Maßnahmen müssen die Mitgliedsstaaten schrittweise bis 2030 vornehmen.
1. E-Rechnung und E-Reporting in Deutschland
E-Rechnung
Die Regelungen zur „E-Rechnung“ treten in drei Stufen in Kraft. Die Mitgliedsstaaten können bereits ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie eine E-Rechnungspflicht einführen. Diese ist allerdings zunächst auf B2B Umsätze limitiert, die im jeweiligen Mitgliedsstaat steuerbar sind. Deutschland hat die stufenweise Einführung einer E-Rechnungspflicht ab dem 1. Januar 2025 im Rahmen des Wachstumschancengesetzes beschlossen (vgl. hierzu unseren Blog-Beitrag vom 18. Juli 2024. Das Bundesministerium der Finanzen hat kürzlich eine Verwaltungsanweisung sowie FAQ veröffentlicht. Hierzu werden wir uns in Kürze äußern). Europaweit verpflichtend umzusetzen sind die Regelungen zur E-Rechnung erst ab dem 1. Juli 2030. Ab diesem Zeitpunkt wird die E-Rechnungspflicht auch auf grenzüberschreitende Transaktionen im B2B-Bereich erweitert, wobei Ausnahmen für bestimmte Konstellationen eingeräumt werden können.
E-Reporting
Die E-Rechnungen sollen die Grundlage für ein ebenfalls ab dem 1. Juli 2030 vorgesehenes digitales Meldesystem („E-Reporting“) bilden. Die Richtlinie sieht vor, dass ab diesem Zeitpunkt alle Daten im Zusammenhang mit innergemeinschaftlichen Lieferungen, innergemeinschaftlichem Verbringen (eigener Ware), innergemeinschaftlichen Erwerben und Umsätzen, bei denen die Steuerschuld auf den Leistungsempfänger übergeht (Reverse Charge Verfahren, ausgangs- und eingangsseitig), elektronisch gemeldet werden müssen. Einige dieser grenzüberschreitenden Transaktionen im B2B-Bereich werden bislang im Rahmen der Zusammenfassenden Meldungen erfasst, deren Abgabe durch die Neuregelung obsolet wird. Die Mitgliedsstaaten können nationale Meldesysteme etablieren, diese müssen jedoch ab 2035 mit dem europäischen System interoperabel sein. Der deutsche Gesetzgeber hat bislang auf die Einführung eines digitalen Meldesystems verzichtet. Deshalb ist denkbar, dass sich direkt an dem europäischen System orientiert wird.
2. Neuregelungen für die Plattformwirtschaft
Hintergrund
Der Europäische Gesetzgeber hat bereits seit längerem erkannt, dass wettbewerbsschädigender Umsatzsteuerbetrug besonders auf digitalen Plattformen stattfindet. Online-Händler aus dem Drittland haben die über Plattformen wie Amazon verkauften Waren häufig nicht umsatzversteuert. Die in diesem Zusammenhang eingeführte Regelung zur Fiktion einer Lieferkette hat zu ersten Erfolgen geführt und wird nun erweitert.
Erweiterung der Lieferkettenfiktion
Bereits seit dem 1. Juli 2021 wird eine Lieferkette fingiert, wenn ein im Drittland ansässiger Online-Händler über eine Online-Plattform Ware an einen in der Europäischen Union ansässigen Nichtunternehmer (B2C) liefert. Die Lieferung des Online-Händlers an die Plattform ist sodann steuerfrei (sodass auch keine Umsatzsteuer hinterzogen werden kann), die Lieferung der Plattform an den Kunden hingegen steuerpflichtig. Diese Regelung soll ab dem 1. Januar 2027 für sämtliche Lieferungen (B2C und B2B) innerhalb der Europäischen Union von Online-Händlern über Online-Plattformen angewandt werden.
Fiktion einer Leistungskette für Beherbergungs- und Personenbeförderungsplattformen
Einen unfairen Wettbewerbsvorteil hat der europäische Gesetzgeber offenbar auch im Hotel- und Taxigewerbe erkannt. Denn für Beherbergungsplattformen (Plattformen, die die kurzfristige Unterkunftsvermietung (bis 30 Nächte) vermitteln) und Personenbeförderungsplattformen (Plattformen, die Personenbeförderungen vermitteln) werden ähnliche Regelungen, in diesem Fall über Leistungsketten, eingeführt. Dies soll verhindern, dass Privatpersonen ihre Vermietungs- oder Personenbeförderungsleistungen über digitale Plattformen ohne Umsatzsteuer anbieten können. Die Neuregelung sorgt dafür, dass zunächst eine steuerfreie Leistung des Vermieters bzw. Fahrers an die Plattform fingiert wird. Anschließend wird eine steuerpflichtige Leistung der Plattform an den Kunden angenommen.
Um zwischen Privatpersonen und Unternehmern abzugrenzen, wird klargestellt, dass die Regelung zur fiktiven Leistungskette nicht anzuwenden ist, wenn der Vermieter bzw. Fahrer der Plattform seine Umsatzsteuer-ID mitteilt und erklärt, dass er seine Umsätze mit Umsatzsteuer berechnet. Die Mitgliedstaaten können die Regelung bereits ab dem 1. Juli 2028 umsetzen. Die Regelung ist verpflichtend ab dem 1. Januar 2030 anzuwenden.
3. „Single VAT Registration“
Hintergrund
Unternehmen, die grenzüberschreitende Transaktionen ausführen, sind derzeit regelmäßig verpflichtet, sich in zahlreichen Mitgliedsstaaten für umsatzsteuerliche Zwecke registrieren zu lassen. Dies bringt einen entsprechenden administrativen Aufwand mit sich. Der europäische Gesetzgeber hat bereits mit der Erweiterung des „MOSS“ Verfahrens auf das „OSS“-Verfahren (ab dem 1. Juli 2021) versucht, diesen Aufwand zu reduzieren. Über den „One-Stop-Shop“ können derzeit grenzüberschreitende Lieferungen („Fernverkäufe“) und Dienstleistungen an in der EU ansässige Privatpersonen (B2C) gemeldet werden. Durch dieses besondere Besteuerungsverfahren wird die ansonsten notwendige umsatzsteuerliche Registrierung des Leistenden im Ansässigkeitsstaat des Kunden vermieden. Die Umsatzsteuer, die im Ansässigkeitsstaat des Kunden anfällt, wird einheitlich im Rahmen einer Meldung (regelmäßig im Sitzstaat des Leistenden) erfasst, abgeführt und an die jeweiligen Staaten verteilt.
Online-Händler, insbesondere auch solche, die ihre Ware über Amazon („Fulfillment“) an Privatkunden verkaufen, nutzen in der Regel jedoch Warenlager im jeweiligen Ansässigkeitsstaat der Kunden, um ihre Ware schneller liefern zu können. In diesem Zusammenhang wird zunächst ein innergemeinschaftliches Verbringen eigener Ware und ein korrespondierender innergemeinschaftlicher Erwerb im Ansässigkeitsstaat des Kunden ausgelöst. Die Lieferung der Ware aus dem Warenlager an den Kunden ist sodann als lokale Lieferung zu qualifizieren. Nach derzeitiger Rechtslage führt dies zur einer umsatzsteuerlichen Registrierungsverpflichtung in den betroffenen Mitgliedsstaaten.
Ausweitung des OSS-Verfahrens
Das OSS-Verfahren wird deshalb ausgeweitet. Ab dem 1. Januar 2027 können nachfolgende Umsätze im OSS-Verfahren gemeldet werden:
- Lieferungen von Gas, Elektrizität, Wärme und Kälte, wenn der leistende Unternehmer nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, wo der Umsatz steuerbar ist;
- Dienstleistungen von im Drittland ansässigen Unternehmern, wenn sie in der Europäischen Union steuerbar sind, unabhängig davon wo der Kunde ansässig ist (bislang nur möglich, wenn der Kunde in der Europäischen Union ansässig ist)
Ab dem 1. Juli 2028 können auch folgende Umsätze im OSS-Verfahren gemeldet werden:
- Lokale Lieferungen im EU-Ausland, für die der Leistende die Steuer schuldet;
- Lieferungen von Gegenständen mit Installation oder Montage und Lieferungen an Bord von Schiffen, Flugzeugen oder Eisenbahnen, wenn der leistende Unternehmer nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, wo der Umsatz steuerbar ist;
- Innergemeinschaftliches Verbringen eigener Ware (Meldung im Abgangsland – in diesem Fall wird der innergemeinschaftliche Erwerb im Bestimmungsland steuerfrei gestellt).
Abschaffung der Konsignationslagerregelung
Die obengenannten Änderungen machen die erst zum 1. Januar 2020 eingeführte Vereinfachungsregelung für Konsignationslager (Warenlager in der Nähe des Kunden, bei dem das Eigentum bis zur Entnahme im Eigentum des Lieferanten bleibt) obsolet. Die Vereinfachungsregelung, für deren Anwendung diverse Voraussetzungen erfüllt sein müssen, hat zur Folge, dass eine umsatzsteuerliche Registrierung für den Lieferanten vermieden werden kann, da erst im Zeitpunkt der Entnahme eine innergemeinschaftliche Lieferung an den Kunden bewirkt wird. Die Regelung gilt nur noch für bis zum 30. Juni 2028 eingelagerte Gegenstände.
Ausweitung des Reverse Charge Verfahrens
Eine weitere Möglichkeit, umsatzsteuerliche Registrierungen im europäischen Ausland zu vermeiden, ist die Ausweitung des sogenannten Reverse Charge Verfahrens, bei der die Steuerschuld auf den Leistungsempfänger übergeht. Bisher konnten die Mitgliedstaaten frei entscheiden, ob und für welche Sachverhalte sie eine Reverse-Charge-Verfahren einführen.
Nun wird zum 1. Juli 2028 eine Regelung in der europäischen Richtlinie eingeführt, die von Deutschland umzusetzen ist, bei der sich der europäische Gesetzgeber offenbar an einem Modell orientiert, welches so bereits in den Niederlanden umgesetzt wurde.
In der folgenden Konstellation ist das sogenannte Reverse Charge Verfahren verpflichtend anzuwenden:
- Lokale B2B Warenlieferung innerhalb eines Mitgliedsstaats;
- Leistender ist in dem Mitgliedsstaat, in dem die Lieferung ausgeführt wird, weder ansässig noch für umsatzsteuerliche Zwecke registriert UND
- Leistungsempfänger ist in dem Mitgliedsstaat, in dem die Lieferung ausgeführt wird, für umsatzsteuerliche Zwecke registriert.
Für die nachstehende Konstellation wird den Mitgliedsstaaten ein Wahlrecht eingeräumt, ob sie eine Regelung in den nationalen Umsatzsteuergesetzen aufnehmen, wonach die Steuerschuld auf den Leistungsempfänger (Reverse Charge) übergeht:
- Lokale B2B Warenlieferung innerhalb eines Mitgliedsstaats;
- Leistender ist in dem Mitgliedsstaat, in dem die Lieferung ausgeführt wird, nicht ansässig, aber für umsatzsteuerliche Zwecke registriert UND/ODER
- Leistungsempfänger ist in dem Mitgliedsstaat, in dem die Lieferung ausgeführt wird, nicht für umsatzsteuerliche Zwecke registriert.
Umsätze, die auch künftig zu einer umsatzsteuerlichen Registrierungsverpflichtung führen
Trotz alledem kann eine umsatzsteuerliche Registrierung im europäischen Ausland auch nach Einführung der Neuregelungen notwendig oder sinnvoll sein. Denn nach wie vor können lokale Vorsteuern und Einfuhrumsatzsteuern nicht über das OSS-Verfahren geltend gemacht werden. Ohne eine umsatzsteuerliche Registrierung kommt hierfür lediglich das sogenannte Vorsteuervergütungsverfahren infrage, welches oftmals größeren administrativen Aufwand und lange Bearbeitungszeiten mit sich bringt.
Zudem führen nachfolgende Umsätze auch künftig zu einer umsatzsteuerliche Registrierungsverpflichtung in dem jeweiligen Mitgliedsstaat, wenn sie dort steuerbar sind:
- Ausgangsumsatz:
- Innergemeinschaftliche Lieferung und Ausfuhrlieferung aus dem Mitgliedsstaat (auch wenn sie regelmäßig steuerbefreit sind!);
- Lokale Lieferung an einen Unternehmer (B2B), der in dem Mitgliedsstaat, in dem die Lieferung ausgeführt wird, nicht für umsatzsteuerliche Zwecke registriert ist (wenn der betroffene Mitgliedsstaat für diese Fälle kein Reverse Charge Verfahren eingeführt hat!);
- Umsatz einer festen Niederlassung, der dieser Umsatz zuzuordnen ist.
- Eingangsumsatz:
- Innergemeinschaftlicher Erwerb (Ausnahme: Erwerb eigener Ware und Nutzung OSS-Verfahren)
Keine größeren Anpassungen für das IOSS-Verfahren
Neben dem OSS-Verfahren wurde ab dem 1. Juli 2021 auch der sogenannte „Import-One-Stop-Shop“ eingeführt. In diesem Verfahren können Unternehmer die Umsatzsteuer für Warenlieferungen (Fernverkäufe) aus dem Drittland an Privatpersonen, die in der Europäischen Union ansässig sind, anmelden und abführen. Dies gilt jedoch grundsätzlich nur für Sendungen mit einem Sachwert von höchstens 150 Euro. Bei Anwendung des IOSS-Verfahrens fällt keine Einfuhrumsatzsteuer an.
Erfahrungen zeigen, dass das Verfahren sehr betrugsanfällig ist. So profitieren Händler beispielsweise von einer steuerfreien Einfuhr, weil zu niedrigere Sachwerte (jeweils unter 150 Euro) angegeben werden. Für diese Zwecke muss den Zollbehörden auch eine (gültige) IOSS-Nummer mitgeteilt werden. Bislang ist es jedoch nicht möglich, im Rahmen der Zollanmeldung zu prüfen, ob die fällige Umsatzsteuer auch zutreffend unter der IOSS-Nummer abgeführt wird. Dies bildet ein Einfallstor für Umsatzsteuerbetrug, insbesondere aufgrund mangelnder Abstimmung zwischen den Mitgliedsstaaten auf dieser Ebene.
Beschlossen wurde in dieser Hinsicht nun lediglich, dass die IOSS-Nummer mit der Sendung verknüpft werden soll. Dies allein wird dem Betrug vermutlich keinen Einhalt gebieten. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass mit der geplanten Zollrechtsreform weitere Maßnahmen ergriffen werden, um Wettbewerbsnachteile für steuerehrliche Händler zu vermeiden.